Neuausrichtung in der Gaspolitik

Türkei will sich als wichtiger Gaslieferant für Europa positionieren

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24.09.2024 – 6:40 Uhr

Die Türkei plant eine grundlegende Neuausrichtung ihrer Gaspolitik: Erstmals will Ankara nicht nur Gas importieren, sondern auch zum Lieferanten für den europäischen Markt aufsteigen. Langfristige Lieferabkommen mit internationalen Energiekonzernen sollen die Grundlage für diese neue Rolle schaffen, die nicht nur die Abhängigkeit der Türkei von russischem Gas verringern, sondern auch den Druck auf die Gaspreise in Europa mindern könnte.

Neue LNG-Deals eröffnen der Türkei neue Märkte

Im Rahmen dieser neuen Strategie hat die staatliche türkische Gasgesellschaft Botas mehrere bedeutende LNG-Lieferverträge abgeschlossen. Zu den jüngsten Abschlüssen gehört ein Abkommen mit dem französischen Energieriesen Total, das den Import von 1,2 Millionen Tonnen Flüssiggas (LNG) pro Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren vorsieht. Diese Lieferungen sollen ab 2027 beginnen und können sowohl über US-Häfen als auch über europäische Terminals abgewickelt werden.

Ein ähnlicher Vertrag wurde Anfang September mit dem britisch-niederländischen Energiekonzern Shell unterzeichnet. Dieses Abkommen umfasst die Lieferung von 2,9 Millionen Tonnen LNG jährlich, ebenfalls mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Darüber hinaus laufen derzeit Verhandlungen mit dem US-Konzern ExxonMobil über die Lieferung von bis zu 2,5 Millionen Tonnen LNG pro Jahr. Diese neuen Lieferverträge unterstreichen den geopolitischen Kurswechsel Ankaras und das Bestreben, sich langfristig als ernstzunehmender Akteur auf dem globalen Gasmarkt zu etablieren.

Türkische Gasversorgung im Wandel

Traditionell bezog die Türkei einen Großteil ihres Gases aus Russland, Aserbaidschan und dem Iran. Doch mit den jüngsten Abkommen strebt Ankara eine Verringerung dieser Abhängigkeit an. Insbesondere die Lieferungen aus Russland, die 2022 noch rund 40 Prozent des türkischen Gasverbrauchs deckten, könnten in den kommenden Jahren durch alternative Quellen ersetzt werden. Die bestehenden Verträge mit Russland und dem Iran laufen 2025 und 2026 aus, was der Türkei neue Spielräume in den Verhandlungen verschafft.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte plant die Türkei nun auch, überschüssiges Gas an europäische Länder zu verkaufen. Bereits kleinere Exportvereinbarungen mit Bulgarien, Rumänien und Ungarn wurden in den letzten Jahren getroffen, doch mit den neuen LNG-Deals könnte sich die Rolle der Türkei als Gaslieferant erheblich ausweiten.

Ausbau der Infrastruktur und Eigenförderung

Parallel zu den neuen LNG-Verträgen investiert die Türkei massiv in ihre Gasinfrastruktur. Besonders im Bereich der Verlade- und Lagerkapazitäten für LNG wurden erhebliche Fortschritte erzielt. Der Anteil von Flüssiggas an den gesamten Gasimporten des Landes hat sich in den letzten zehn Jahren auf rund 30 Prozent verdoppelt.

Zusätzlich schreitet die Erschließung neuer Gasvorkommen im Schwarzen Meer voran. Die Türkei entdeckte dort 2020 das größte Erdgasfeld ihrer Geschichte. Diese Eigenförderung wird die Position der Türkei als potenzieller Gasexporteur weiter stärken. Türkische Regierungsvertreter sind zuversichtlich, dass die Gasreserven in Kombination mit den langfristigen Importabkommen mittelfristig zu einem Exportüberschuss führen werden.

Europa als Zielmarkt: Neue Perspektiven für die Energieversorgung

Die europäische Abhängigkeit von russischem Gas hat durch den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise eine neue Dringlichkeit erhalten. Die EU strebt an, bis 2027 vollständig unabhängig von russischen Energiequellen zu sein. Genau zu diesem Zeitpunkt sollen auch die ersten LNG-Lieferungen aus den neuen Abkommen der Türkei in Europa eintreffen.

Ankara könnte damit in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der Gasversorgung Europas übernehmen. Bisher agierte die Türkei vor allem als Transitland für Gaslieferungen aus Aserbaidschan über die Transanatolische Pipeline (TANAP) und die Transadriatische Pipeline (TAP). Künftig könnte die Türkei jedoch selbst zu einem bedeutenden Lieferanten für den europäischen Markt werden – eine Entwicklung, die sowohl die Versorgungssicherheit als auch den Wettbewerb auf dem europäischen Gasmarkt fördern dürfte.