Die archäologischen Entdeckungen in Göbeklitepe, einer antiken Stätte im Südosten der Türkei, haben zu einem neuen Verständnis der Menschheitsgeschichte geführt. Sie zeigen, dass die Anfänge von Ackerbau und Viehzucht nicht, wie bisher angenommen, die Ursache, sondern die Folge von Sesshaftigkeit waren. Göbeklitepe beweist, dass die Menschen vor 12.000 Jahren nicht nur in der Architektur, sondern auch in Technik und Kunst eine hoch entwickelte Gesellschaft waren.
Einzigartige Funde in Göbeklitepe
Die Ausgrabungsstätte Göbeklitepe, etwa 18 Kilometer von Şanlıurfa entfernt, wurde 1963 entdeckt und wird seit 1995 unter der Schirmherrschaft des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus intensiv erforscht. Im Jahr 2018 wurde die Stätte von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die Ausgrabungen haben bisher unvorstellbare Erkenntnisse zu Tage gefördert und weltweit für Aufsehen gesorgt.
Prof. Dr. Necmi Karul, Leiter der Ausgrabungen in Göbeklitepe, erklärt, dass hier monumentale Bauwerke aus der Jungsteinzeit aus der Zeit von etwa 9600 bis 8200 v. Chr. gefunden wurden. Diese Bauten zeigen, dass Göbeklitepe einst eine Siedlung war, die nicht nur kultischen Zwecken, sondern auch dem täglichen Leben diente.
„Die Entdeckung von öffentlichen Gebäuden neben Wohnhäusern zeigt, dass Göbeklitepe nicht nur ein religiöser Ort war, sondern eine organisierte Siedlung, in der Menschen zusammenlebten und kommunale Strukturen pflegten“, sagt Karul.
Landwirtschaft als Folge der Sesshaftigkeit
Die Funde in Göbeklitepe und an ähnlichen Orten haben dazu geführt, dass alte Vorstellungen über das sesshafte Leben revidiert werden mussten. Anstatt Ackerbau und Viehzucht als Voraussetzung für Sesshaftigkeit zu betrachten, zeigen die Funde, dass die frühen Gesellschaften bereits in festen Gemeinschaften lebten, bevor sie begannen, Pflanzen anzubauen und Tiere zu domestizieren. Es scheint, als hätten sich die ersten landwirtschaftlichen Aktivitäten aus der bestehenden sesshaften Lebensweise entwickelt.
„Die Bewohner von Göbeklitepe begannen kurz nach ihrer Sesshaftwerdung mit dem Anbau von Pflanzen und der Domestizierung von Tieren“, sagt Karul. “Dieser Prozess markiert den Beginn einer Lebensweise, die unsere heutige Gesellschaft grundlegend prägt.
Hochentwickelte Gemeinschaften vor 12.000 Jahren
Göbeklitepe bietet aber noch tiefere Einblicke in die damalige Gesellschaft. Die monumentalen Bauten und T-förmigen Steinsäulen mit eingravierten Symbolen und Tiermotiven deuten auf eine komplexe soziale Struktur und ein reges kulturelles Leben hin. Prof. Karul betont, dass Göbeklitepe ein völlig neues Licht auf die Menschen jener Zeit wirft und zeigt, dass sie sich in vielerlei Hinsicht nicht von uns unterschieden.
„Die Fähigkeiten der Menschen vor 12.000 Jahren waren erstaunlich. Sie konnten nicht nur monumentale Bauwerke errichten, sondern auch komplexe Szenen in Stein meißeln und damit Mythen und Geschichten erzählen, die einen festen Bestandteil ihres Lebens bildeten“, erklärt Karul.
Die Funde aus Göbeklitepe widerlegen das stereotype Bild von primitiven” Urgesellschaften. Sie zeigen, dass die Menschen damals technisch und künstlerisch hoch entwickelt waren und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Zusammenarbeit besaßen.
Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung
Die neuen Erkenntnisse stellen das bisherige Geschichtsverständnis in Frage. Schulbücher und historische Abhandlungen gehen oft von einem einfachen und harten Leben der frühen Menschen aus. Göbeklitepe beweist, dass diese Annahmen revidiert werden müssen. Die Funde zeigen, dass die Menschen in dieser Region in der Lage waren, anspruchsvolle Bauwerke zu errichten und symbolische Kunstwerke herzustellen, was auf eine hoch entwickelte Kultur hinweist.
„Göbeklitepe ist eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen unserer Zeit, weil sie unser Verständnis der frühen Menschheitsgeschichte grundlegend verändert hat“, schließt Prof. Karul. Göbeklitepe lehrt uns, dass der Mensch schon vor Jahrtausenden erstaunliche kulturelle und technische Leistungen vollbracht hat – ein Wissen, das die Geschichtsschreibung nachhaltig prägen wird.